Ich bin Mutter eines schwerbehinderten Kindes und habe noch eine Tochter mit 14 Jahren. Ihr schwerbehinderter Bruder ist 3 Jahre jünger als sie.
Als meine Tochter damals zur Welt kam, war einfach alles perfekt. Ich schaute mir damals dieses kleine bezaubernde Wesen an und dachte mir nur „Wow, wie schön sie doch ist!“ und das tue ich heute noch.
Nach 3 Jahren war die Freude groß, denn es kündigte sich Nachwuchs an, dieses Mal ein Junge! Der Altersunterschied war perfekt und die Beiden könnten miteinander spielen. So der Plan. Meine Tochter wollte immer, dass es ein Alex wird, aber wir entschieden uns dann doch anders.
Als der kleine Bruder geboren wurde, war die große Schwester natürlich mächtig stolz, doch das Glück sollte nicht langer von Dauer sein.
Bereits auf der Entbindungsstation zeigten sich die ersten Probleme. Er bekam schlecht Luft und das Stillen ging einfach nicht. Nach drei Wochen zu Hause kippte alles und mein Sohn musste auf Anraten der Kinderärztin ins Krankenhaus. Ich erinnere mich noch genau an die besorgten Gesichter des Klinikpersonals bei der stationären Aufnahme. Ich saß da und hielt mein Kind im Arm und es kamen immer mehr Ärzte und Schwestern hinzu. Es zeigte sich schnell, dass es mit der normalen Säuglingsstation nicht getan war und er auf die Intensivstation musste. Ab diesen Zeitpunkt änderte sich unser Leben schlagartig und wir wussten damals noch nicht, was für ein schwerer Weg uns nun bevorstand.
Aus Wochen wurden Monate, die ich mit meinem Sohn in verschiedenen Krankenhäusern verbrachte. Hunderte Kilometer weit entfernt von meiner Tochter, da man uns heimatnah nicht helfen konnte.
Meine Tochter war gerade 3 Jahre alt und mitten in der Eingewöhnung in den Kindergarten. Dies gestaltete sich natürlich sehr schwierig, weil die Mama nicht mit dabei war, die sie so dringend gebraucht hätte. Es gab viele Tränen und sie klammerte sich bei jeder Verabschiedung fest an ihren Papa, der sich mit der Situation auch schwer tat, los zu lassen. Ich war in Gedanken immer bei ihr, konnte aus der Ferne aber nicht helfen.
Die Jahre vergingen, beide Kinder wuchsen heran, doch es dreht sich, auch heute noch, eigentlich fast alles nur um den behinderten Bruder.
Unser ganzer Alltag ist geprägt von der Pflege und Versorgung des behinderten Kindes. Regelmäßige Therapien, unzählige Arztbesuche, Klinikaufenthalte, der immer wiederkehrende Kampf mit Behörden und der Krankenkasse. Ich bin am Abend oft so platt und kaputt, dass ich einfach nur noch meine Ruhe haben will.
Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, dass ich meiner Tochter nicht die Aufmerksamkeit schenken kann, die sie bräuchte.
Es wurde ihr zwangsläufig, ab dem Zeitpunkt der Geburt des Bruders, viel Verständnis und Rücksichtnahme abverlangt. Sie musste mit der Situation umgehen lernen, dass nun tagtäglich ein Kinderintensivpflegedienst bei uns im Haus war und sich um den Bruder kümmerte. Oft saß sie auf dem Schoß ihrer Lieblingskrankenschwester Conny, die ihr am Abend Geschichten vorlas, während ihr Bruder schlief.
Es gab auch Situationen bei denen ich mit meinem Sohn von jetzt auf gleich ins Krankenhaus musste, weil er beim Füttern mal wieder aspiriert hatte. Innerhalb kurzer Zeit landete der Rettungshubschrauber, der Notarzt mit Rettungssanitäter kam und nahmen uns mit ins Krankenhaus und sie blieb zurück beim Papa.
Ich bemühe mich immer, dass sie nicht zu kurz kommt, doch das gelingt oftmals einfach nicht. Mutter-Tochter-Ausflüge, gemeinsames Shoppen oder einfach mal eine Serie schauen. Aber man hat immer das Gefühl, dass es einfach nicht reicht, was man geben kann. Es ist sowieso ein Balanceakt als Mutter allen gerecht zu werden. Da sind die Kinder, der Haushalt, Beruf und der Partner möchte auch nicht zu kurz kommen. Man selbst bleibt dabei auf der Strecke und besonders in einer Situation wie der unseren.
Die Zeit verfliegt so schnell und mittlerweile ist sie eine junge, hübsche Dame und ich frage mich, wo sind nur die Jahre geblieben und wünschte mir mehr Zeit gehabt zu haben.
Ich habe immer versucht Sorgen und Ängste, die wir Eltern zwangsläufig haben, weites-gehend von ihr fern zu halten, um ihr so gut wie möglich eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Gelungen ist das natürlich nicht immer.
Wir haben damals Hilfe vom Paritätischen und vom Bunten Kreis bekommen, die für Geschwisterkinder spezielle Programme anbieten und sich bemühen, dass einmal etwas besonderes nur für die „Schattenkinder“ gemacht wird. Eine Zeit lang haben wir diese Angebote gern angenommen und meine Tochter hatte mal ihren Spaß allein mit der Mama. So waren wir zum Beispiel im Hofer Zoo oder in einer Schokoladenmanufaktur, wo sie selbst Pralinen herstellen durften. Da sich meine Tochter allein immer schwer tat dorthin zu gehen, durfte sie sogar eine Freundin mitbringen. Das war nie ein Problem und ich war sehr dankbar dafür.
Sicherlich ist nicht immer alles „Friede, Freude, Eierkuchen“. Ihr ist der Bruder auch mal peinlich oder nervend. Besonders dann, wenn er laut schreit und man uns schon von Weitem hört.
Kennt ihr das Buch „Wunder“? Ich habe nur den Film gesehen, da mir die Zeit zum Lesen einfach fehlt. Aber diese Geschichte ist unser Leben. Es gibt so viele Parallelen und ich war erst einmal etwas schockiert, als würde man uns einen Spiegel vorhalten. Da ist die Mutter, die immer wie im Hamsterrad rennt, Auggie mit seinen Beeinträchtigungen und Behinderungen, die vielen Krankenhausaufenthalte und Therapien. Und da ist Via, die große Schwester, die immer mitläuft und mitunter nicht gesehen wird, aber trotzdem ihr Leben und die Situation versucht zu meistern.
Ich finde es trotz aller Umstände großartig, wie sich meine Tochter über die Jahre hinweg entwickelt hat. Schon vor Jahren hat sie mir immer mit geholfen und wenn es nur mal das Holen einer neuen Windel ist, die ich gerade vergessen habe. Mittlerweile hat sie ihren Freundeskreis und gelernt mit der Behinderung ihres Bruders umzugehen, auch wenn es nicht immer einfach ist. Ich habe ihr stets vermittelt, dass man sich nicht schämen muss. Sind Freunde zu Besuch, ist deren Reaktion weitestgehend positiv und das hängt auch davon ab, wie sie selbst mit der Situation umgeht und das macht sie gut. Irgendwie haben wir gelernt damit umzugehen, das Beste daraus zu machen und Hilfe anzunehmen.
Meine liebe Tochter, ich möchte Dir heute auch an dieser Stelle einmal sagen: Ich bin so stolz auf Dich. Danke meine Große, dass es Dich gibt!
Deine Mama
Seid ihr in einer ähnlichen Situation, erhaltet ihr hier Hilfe und Unterstützung:
Beratungsstelle für Familien mit behinderten Angehörigen (paritaet-bayern.de)
Bayreuth (harlekin-nachsorge.de)
EUTB Bayreuth | www.teilhabeberatung.de
Familienentlastender Dienst – Diakonie Bayreuth (diakonie-bayreuth.de)
Regionale Angebote der Offenen Hilfen | Regens Wagner (regens-wagner.de)
Anke Potzel