In der Kunsthalle Tübingen gibt es seit einigen Wochen eine Ausstellung mit dem Titel „Sisters & Brothers.“ Es geht, wie der Name bereits erahnen lässt, um Geschwister. Wie und mit wem wir aufwachsen, so der Text zur Veranstaltung, prägt uns unser ganzes Leben lang, bestimmt unser Sozial- und Konfliktverhalten und stellt die Weichen für alle weiteren Beziehungen in unserem Leben. Wahrscheinlich sind Geschwister, wenn es welche gibt, genauso wichtig für die Erziehung eines Kindes wie Eltern.
Vielleicht ist das der Grund, warum das „Geschwisterkind“ ein so großes Thema für viele Familien sind. Der unerfüllte Kinderwunsch hat vor allem in den letzten Jahren an Sichtbarkeit zugenommen. Die Sehnsucht nach einem zweiten oder dritten Kind ist leiser. Dabei ist das Internet voll von den Geständnissen verzweifelter Elternteile—meistens Frauen—die sich ein zweites Kind wünschen, deren Partner das aber nicht will. Oft ist diese Sehnsucht begleitet von dem Schuldgefühl, nicht zufrieden zu sein, mit dem was man bereits hat: Das eine, gesunde, glückliche Kind.
Unsere eigene Tochter wünscht sich auch ein Geschwisterchen. Am liebsten eine Schwester, aber ein Bruder wäre auch in Ordnung. Sie ist jetzt fünf und wünscht sich auch einen Hund, drei Kaninchen und manchmal eine Katze. Als sie noch kleiner war, hat sie mich oft dazu aufgefordert, mehr Milch zu trinken. Für sie gab es einen Zusammenhang zwischen Frauen, die Milch trinken und denen, die Babys haben—vermutlich, weil sie eine Freundin der Familie manchmal beim Stillen beobachtet hat.
Eine der rührendsten Berichte bei meiner Internetrecherche zum unerfüllten Zweitkindwunsch war der Text einer Mutter, die von ihrem Weg zur Akzeptanz erzählte. Das erste Kind war ungeplant und sie war überrascht von der Liebe und Hingabe ihres Mannes dem gemeinsamen Kind gegenüber. Ein zweites könne er sich aber nicht vorstellen und sie schreibt, dass sie das lange Zeit mit großer Trauer erfüllt hat. In der letzten Zeit hat sie aber begonnen zu verstehen, dass jede Familie ihre eigenen Grenzen hat. Begrenzte Energie, begrenzte Zeit, vielleicht sogar begrenzte Ressourcen, die es einem ermöglicht, diesem einen Kind mit so viel Liebe und Geduld zu begegnen, wie man es sich auch bei jedem weiteren wünschen würde. Und doch weiß, dass man nicht mehr geben kann. Ich fand diese Mutter mutig und klug. Die eigenen Grenzen zu kennen—und die des Partners zu respektieren, obwohl man sich eigentlich etwas anderes wünschen würde— erfordert viel Verständnis.
Die Tatsache, dass man verwandt ist und miteinander aufgewachsen ist, bedeutet nicht, dass man sich gut versteht und nicht einmal, dass man sich mag, geschweige denn liebt. Ich glaube auch fest daran, dass es Geschwister im Geiste gibt. Meine beste Freundin, die ich seit der Grundschulzeit kenne, ist wie eine Schwester für mich. Trotzdem ist mein eigener Bruder einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Für alle, für die Geschwisterbeziehungen komplizierter sind, verspricht der Bayerische Rundfunk in einem Podcast vom Januar 2023, dass es nie zu spät und heilsam für alle sei, die Versöhnung mit den (erwachsenen) Geschwistern anzustreben.
Eva Hoffmann