Meine Tochter ist letztens mit dem Kinderteil der Süddeutschen Zeitung in ihrem Zimmer verschwunden. Als sie wieder herauskam, hatte sie die Bilder verschiedener Kinder ausgeschnitten und auf rosa Pappe geklebt. Sie sagte mir, sie wollte das machen, weil eines der Kinder ein kleines Stofftier auf den Arm hatte, das ihr gefiel: Skye, von Paw Patrol. Warum sie auch die anderen sechs Kinder akribisch ausgeschnitten und sorgfältig aufgeklebt hat, weiß ich nicht genau. Sie konnte mir das auch nicht beantworten.
Für mich wirkte das Kunstwerk meiner Tochter wie ein Mahnmal: Die Fotos der sieben Kinder waren in der Zeitung abgedruckt, weil sie aus der Ukraine geflüchtet sind. Die Stofftiere und die anderen Spielzeuge, die sie im Arm hielten, waren das Einzige, das sie aus ihrem Kinderzimmer mitbringen durften. Ein Junge hielt seine Katze im Arm.
Der Versuch, meiner Tochter zu erklären, warum diese Kinder in der Zeitung sind, stellte mich rasch vor Fragen, auf die ich auch keine Antwort habe. Wie kann ich meinem Kind einen Konflikt erklären, dessen Details ich selber oft nicht genau verstehe? Wie kann ich ihr Empathie für die Geflüchteten und ihre Situation vorleben ohne selber zu verzweifeln und ihr Angst zu machen? Und wie kann ich ihr verständlich machen, dass die Geflüchteten aus der Ukraine nicht die Einzigen sind, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, ohne deren Leid zu relativieren?
Meine Tochter ist jetzt vier, sie bekommt Vieles von dem, worüber ich mit meinem Partner beim Abendessen spreche, nicht mit, oder interessiert sich nicht dafür. Aber eine Freundin von mir wollte auf die Großdemo in Berlin gehen, um gegen den Krieg zu protestieren. Ihren zehnjährigen Sohn wollte sie eigentlich nicht mitnehmen, um ihn zu schützen. Er bestand darauf, dabei zu sein. Auf den Fotos, die sie von dem Nachmittag am Brandenburger Tor geschickt haben, sehen sie glücklich aus. Vielleicht, weil sie das Gefühl haben, etwas zu tun, gegen die Gewalt, gegen die Ungerechtigkeit und gegen ihre eigene Angst.
In der Schule, in der ich unterrichte, kommen die ersten ukrainischen Jugendliche an. Sie werden integriert, vor allem auch von den Mitschüler*innen, die russisch sprechen. Die Schüler*innen, die sich um die Geflüchteten aus der Ukraine kümmern, überwiegen denen gegenüber, die hinter vorgehaltener Hand die russischstämmigen Schüler*innen beschimpfen. Sie kümmern sich, weil sie wissen, dass es das Richtige ist, aber auch, davon bin ich überzeugt, weil sie merken, dass die Neuankömmlinge ihr eigenes Leben bereichern können. Dass Freundschaften entstehen können, auf der Basis von vielen Gemeinsamkeiten und aus der Neugierde heraus, auf die Erfahrungen, die nur die jeweils Andere gemacht hat.
Das rosa Bild meiner Tochter mit den ukrainischen Geflüchteten hängt jetzt in ihrem Zimmer. Nach all den Wochen droht der Krieg zum neuen Normalzustand zu werden. Meine Tochter wird vielleicht mit diesem, sicher aber mit irgendeinem Krieg groß werden. Wir werden weiterhin auf der Suche nach den richtigen Worten sein, um das Unbegreifliche begreiflich zu machen. In der Zwischenzeit haben wir gemeinsam mit unserer Tochter ein Weckglas mit buntem Transparentpapier beklebt. Im amerikanischen Englischen gibt es eine schöne Umschreibung: „Let’s build happy memories“, was übersetzt etwa heißt, „Lass uns glückliche Erinnerungen schaffen“. Wir schreiben die schönen Momente, die wir festhalten wollen, an die wir uns erinnern wollen, jetzt immer auf und stecken sie in das Glas.
Let’s build happy memories. Let’s.
Eva Hoffmann